Plötzlich knallt es laut. 35 Gäste zucken zusammen. Gerade haben sie sich noch fröhlich auf der schattigen Terrasse unterhalten, haben gerösteten Blumenkohl auf Kräuter-Kartoffelstampf, Betesalat mit eingelegten Sauerkirschen oder Agnolotti mit Auberginen-Zucchini-Pesto gegessen, nun starren sie auf die Kellnerin am Tisch außen links. Beim Abräumen hat sie zwei Wassergläser aufeinandergehauen, das untere ist förmlich in ihrer Hand explodiert. Doch sie hebt gleich ihre Arme: Alles in Ordnung, ihr ist nichts passiert. In jedem anderen Lokal wäre der kleine Unfall damit genau so plötzlich vergessen gewesen, wie es geknallt hat. Hier nicht. Im "Frea" in Berlin-Mitte wirft der Moment der vielen kleinen Scherben eine große Frage auf: Was um Gottes Willen passiert nun mit dem kaputten Glas?
Das "Frea" auf der Torstraße, zwischen Rosenthaler Platz und Oranienburger Tor, bezeichnet sich - nicht gerade geländegängig - als "das erste pflanzenbasierte, vegane zero waste Restaurant in Berlin-Mitte". Pflanzenbasiert und vegan - das gibt es in Mitte eigentlich an jeder Ecke, manche Eisdielen funktionieren hier so und sogar Burgerläden. Die Unterscheidung beider Begriffe hält man hier für wichtig. Manche nutzen sie nebeneinander, weil mit "vegan" zwar alle etwas anfangen können, "pflanzenbasiert" aber der Ausdruck ist, der weniger dogmatisch und nicht von der Industrie korrumpiert sei und mehr für Nachhaltigkeit stehe, wie man im "Frea" etwas umständlich erklärt. Was das "Frea" aber tatsächlich besonders macht, ist sein Anspruch, das weltweit erste Restaurant zu sein, das pflanzenbasiert und mit Zero-Waste-Konzept arbeitet, das also keinerlei Müll produziert. Geht das überhaupt?
Fast zwölf Millionen Tonnen Lebensmittel werfen die Deutschen pro Jahr in den Müll
David Suchy steht am nächsten Morgen in kurzer Sporthose und Schlabberpulli an seiner Theke und lacht. Hinter diesem großen Mann, der kein Gramm Körperfett zu besitzen scheint, hängen trichterförmige Lampenschirme, hergestellt aus Pilzen und Wurzelwerk. Um ihn herum stehen Stühle und Tische, die er selbst entworfen oder auf Ebay gekauft hat. Und an der Wand hängt ein Kunstwerk, hergestellt aus zusammengeschmolzenem Plastik, das beim Umbau des Lokals angefallen war.
"Es kommen immer Leute, die sticheln wollen", sagt der 32-Jährige. Leute, die seinen Ansatz hinterfragen und im Restaurant nach Dingen suchen, die eben doch Müll produzieren. "Ein bisschen Schwund ist immer", gibt Suchy offen zu. Die Industrie sei eben noch nicht so weit, dass sie nach abfallloser Philosophie funktioniert. Beim Spülmaschinenreiniger etwa, der eben doch in Plastikkanistern geliefert wird. Beim Olivenöl, das in Plastikeimern kommt. Oder beim kaputten Glas, das auf seiner Terrasse lag. "Ich habe aber zu viel Zeit in dieses Thema investiert, als dass ich keine plausiblen Antworten darauf hätte."
An "diesem Thema" kommt man als Gastronom und Koch, aber auch als Gast kaum noch vorbei. Der "Thünen Report 71" hat Ende 2019 geschätzt, dass in Deutschland pro Jahr knapp zwölf Millionen Tonnen Lebensmittelabfälle zusammenkommen. Es ist nur eine Schätzung, weil die Zahlen des Braunschweiger Thünen-Instituts für ländliche Räume nicht hinreichend gesichert sind, sie basieren auf Daten aus dem Jahr 2015. Alarmierend genug sind sie trotzdem. Und sie kommen zum Ergebnis: Etwas mehr als die Hälfte der Abfälle wäre theoretisch vermeidbar.
Müllvermeidung "hat in gastgewerblichen Betrieben in den vergangenen Jahren immer mehr an Bedeutung gewonnen", sagt Christian Reuter, Referent für Lebensmittelrecht beim Deutschen Hotel- und Gaststättenverband (Dehoga). Anfang 2020 hat der Dehoga mit anderen Verbänden und dem Bundesministerium für Ernährung und Landwirtschaft eine "Grundsatzvereinbarung zur Reduzierung von Lebensmittelabfällen" unterzeichnet. "Bis zum Jahr 2030 möchte die Bundesregierung das Ziel erreichen, die Nahrungsmittelverschwendung pro Kopf auf Einzelhandels- und Verbraucherebene zu halbieren", heißt es darin. So sollen zum Beispiel Abfälle, die entlang der Produktions- und Lieferkette entstehen, künftig verringert werden. Es gibt Studien, nach denen bei Großverbrauchern 17 Prozent der bereits verarbeiteten Lebensmittel weggeschmissen werden, auch das soll drastisch weniger werden. Denn eigentlich wäre die Rechnung sehr einfach: Wer weniger Abfall produziert, schont nicht nur die Umwelt, er hat auch weniger Kosten. Es gibt deshalb inzwischen verschiedene Dialogforen, damit jeder Gastronomietyp Lösungen findet, die auch praxistauglich sind.
Karotten lassen sich prima in kompostierten Zitronenschalen garen
David Suchy hat seine Lösung in Südengland entdeckt. Zehn Tage lang hat er im "Silo" in Brighton mitgearbeitet, dem ersten Restaurant überhaupt, das den Anspruch an sich stellte, keinen Abfall zu produzieren. Sein Gründer, Douglas McMaster, ist der Vorreiter der Zero-Waste-Bewegung. Auch weil er die Gastroszene damit inspiriert, dass er vom Suppenteller bis zur Tischplatte alles recycelt oder dass er Karotten in kompostierten Zitronenabfällen gart. Was nicht überall gut ankommt: Das "Silo" ist wegen seiner Ideologielastigkeit auch angegriffen worden. Man vergesse dort, dass Essen auch Spaß machen soll.
Im "Frea" will David Suchy das anders machen, hier soll sich ein Besuch anfühlen wie "nach Hause zu kommen". Die kurze Zeit im "Silo" reichte ihm jedenfalls, um eine Maschine kennenzulernen, die Suchy heute sein eigenes Restaurantprojekt ermöglicht. Diese sieht aus wie eine Tiefkühltruhe aus Stahl und steht gut sichtbar an einer Wand des Gastraums. "Oben schmeißen wir unsere Essensreste rein, die dann kontinuierlich bei 50 bis 60 Grad Temperatur mit einem Ansatzboden aus Bakterien durchgemischt werden", erklärt David Suchy und tätschelt die Maschine zärtlich. Innerhalb von 24 Stunden ist alles auf zehn Prozent der ursprünglichen Größe zu Erde kompostiert. "Nach einer Woche entnehmen wir der Maschine zwei Drittel der Erde", sagt Suchy. Diese Erde wird in den Plastikeimern, in denen das Olivenöl geliefert wurde an die Bauern gegeben, die dem "Frea" ihre Lebensmittel liefern. "So entsteht ein Kreislauf ohne Lebensmittelverschwendung".
Es ist einfacher, nichts wegzuwerfen, wenn man vegan kocht
Natürlich stehen im Hinterhof trotz aller Abfallvermeidung immer noch die Mülltonnen, die aber nicht zum Restaurant, sondern zum ganzen Haus gehören. Nur für Glas, Papier und Biomüll hat Suchy eine eigene Tonne angeschafft - falls im Notfall eben doch mal etwas anfällt. Aber widerspricht das nicht seiner Null-Toleranz gegenüber Müll? "Wir haben in Berlin eine richtig krasse Abfallsortierung und Recyclinganlagen", sagt Suchy. "Die Berliner Stadtreinigung macht einen super Job, die recyceln alles und machen daraus Biogas." Natürlich klingt das ein bisschen nach Ausrede. Aber es geht bei Müllvermeidung auch um den Lernprozess. Jedenfalls merkt man Suchy an, dass er diese Zweifler-Gespräche öfter führt. Das "Frea" hat zudem den Vorteil, dass keine tierischen Lebensmittelreste anfallen, so kann Suchy komplett recyceln und recyceln lassen. Fleischabfälle müsste er, wie jeder Gastrobetrieb, gekühlt lagern, bis sie wöchentlich oder alle 14 Tage abgeholt werden.
Dazu kommt, dass die Küche sehr nachhaltig arbeitet. Alles, was Suchys insgesamt zehn Köche, von denen einige Erfahrungen in Sterne-Restaurants gesammelt haben, auf die Teller zaubern, wird im Haus selbst hergestellt. Aus Kichererbsen wird Sahne aufgeschlagen, aus Gemüseschalen werden Soßen gekocht. Verpackungen vermeidet Suchy, indem er nur Lieferanten beauftragt, die ihm garantieren, unverpackt zu liefern. Bis auf Kakaobohnen und Olivenöl kommt alles aus der unmittelbaren Region, um den ökologischen Fußabdruck niedrig zu halten.
"Zero Waste war für mich der nächste logische Schritt", sagt Suchy. Seit Jahren beschäftigt er sich mit Ernährung, probierte verschiedene Formen an sich aus und gründete einen Catering-Service, anfangs ökologisch, später vegan. "Zusammen mit meiner Ehefrau habe ich dann überlegt: Wie kann ich noch nachhaltiger werden, wie kann ich unsere Message nach außen bringen?" Sein Konzept definiert für ihn die Zukunft der Gastronomie insgesamt. Suchy sieht sich als Wegweiser für andere, die seinen Weg wählen - auch wenn er bislang kaum Nachahmer sieht. "Die Corona-Pandemie hat dieses Thema in den vergangenen Monaten etwas in den Hintergrund rücken lassen", sagt Christian Reuter vom Dehoga. "Aktuell kämpfen viele Gastronomen und Hoteliers schlicht ums Überleben. Wir befürchten, dass die Existenz von 70 000 Betrieben, als fast jedem Dritten im Hotel- und Gaststättengewerbe bedroht ist."
Das Essen muss natürlich schmecken, das ist das Wichtigste
Andererseits betonen viele Köche gerade, Corona haben ihnen noch einmal gezeigt, wie wichtig es sei, umzudenken. Nachhaltiger, regionaler und in Kreisläufen zu arbeiten. Sich auf das Wesentliche zu konzentrieren. "Wir sind gut mit den Corona-Beschränkungen klargekommen", sagt Suchy. Nach dem Ende des Gastro-Lockdowns stellt er ein gestiegenes Bewusstsein in der Gesellschaft fest: "Für Essen, für Ernährung, fürs Rausgehen und das Genießen." Das "Frea" sei "jeden Abend ausgebucht, sieben Tage die Woche." Was wohl auch daran liegt, dass das Essen für Suchy an erster Stelle steht. "Alles, was danach kommt, ist ein Aha-Effekt. Aha, das Essen war fleischlos, aha, bei seiner Zubereitung wurde kein Abfall produziert." Es ist doch so: Wenn das Essen nicht schmeckt, interessiert sich niemand für die Ethik dahinter.
Im "Frea" gehen die Servicemitarbeiter erst einmal vor dem Gast in die Knie, um möglichst zugewandt zu erklären, was auf dem Teller liegt, den sie servieren. Da gibt es zum Beispiel Lauch mit Lauch und Lauchsoße, "weil wir wirklich jeden Teil des Lauchs verwenden". Oder handgemachte Spaghetti mit gelber Tomatensoße. Alle vier bis sechs Wochen wechselt die Karte, die je drei Vorspeisen, Hauptgerichte und Desserts anbietet. Oder man bestellt das Überraschungsmenü in drei Gängen für 39 Euro. Eine Restaurantkritik würde hier den Rahmen sprengen, nur so viel: Die Lauchvariation definiert Vorspeisen neu, das gegrillte Gemüse lässt keinen Gedanken an Fleischbedarf aufkommen. Und es spricht auch für sich, dass den gesamten Abend über kein Teller mit Essensresten von den Tischen geräumt wird.
Das Glas übrigens, das explodiert war, sieht Suchy auch als ein Zeichen. "Dafür, dass man nicht immer alles an Müll vermeiden kann." Was er damit sagen will: Es geht bei dem Thema nicht um Dogmen, sondern darum, jeden Tag ein wenig besser zu werden. "Wir alle können dazu beitragen"
July 31, 2020 at 11:49PM
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Die Abfall-Wirtschaft - Süddeutsche Zeitung
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